Bayern, Heimat, Tradition, Brauchtum - gestern, heute, morgen
Als unreife Beeren abreißen noch vom Familiengericht geahndet wurde
Jetzt, wo allmählich wieder die Beerenzeit beginnt, kommt mir wieder in den Sinn, als ich in meiner Kinderzeit von unseres Vermieters Garten ein paar unreife Stachelbeeren klaute. Gerade in den Moment hat mich die verzogene Tochter des Hauses Anneliese dabei erwischt. Sie verpetzte mich umgehend bei ihrer Großtante Nanni, die mich wegen dieser "Straftat" in ihre gute Stube zitierte. Ich bekam einen Anschiss, der sich gewaschen hatte. Ich musste hoch und heilig versprechen, dass sich dieser unliebsame Vorfall nicht wiederholen wird. Das hätte ich alles noch verkraften können, wenn nur meine Mutter es nicht erfährt. Sie half, wie so oft, bei den Bauern aus, die immer helfende Hände gebrauchen konnten. Wohlgemerkt für einen Hungerlohn, denn damals gab es auch schon welche, die sich die Not anderer Menschen zunutze machten. Aber sie wollte halt auch, wenn sich die Gelegenheit bot, zum Lebensunterhalt beitragen. So war sie an diesem Tag schon ziemlich fertig und gestresst, dass es nicht viel brauchte, sie zur Weißglut zu bringen. Ich wusste, was mir blühte, denn sie bläute mir immer wieder ein, dass fremdes Eigentum tabu für mich ist. Und jetzt das! Sie war noch nicht ganz durch die Haustüre, als ihr Nanni wutentbrannt erzählte, was ich getan hatte. In weiser Voraussicht, was mir dafür blühte, rannte ich weg, als Mama mir befahl, zu ihr zu kommen, um ihr alles zu beichten. Infolge dessen verfolgte sie mich, doch ich lief weiter und hielt sie mir immer ein paar Schritte vom Leib. Schnaufend erzählte ich ihr, dass es nur ein paar Stachelbeeren waren, die ich probieren wollte. Indessen baute sich der Zorn meiner Mutter mit jedem Meter, den sie hinter mir her spurtete, mehr auf. Der Weg führte beim Kramer vorbei, auf der Straße nach Moosen bog ich nach rechts ab bis zur Wasserreserve und bei der späteren Betonstraße wieder runter auf die Hauptstraße. Die Lage wurde für mich immer aussichtsloser, denn von da waren es nur wenige Meter bis zu unserer Wohnung, wo es kein Entrinnen mehr gab. Dort gab es ein paar saftige Watschn (Ohrfeigen) , die in der heutigen Zeit undenkbar wären. Damals war das eigentlich normal und deshalb trage ich meiner Mutter heute nichts mehr nach. Folgsamkeit war ein Gebot, das dazu dienen sollte, Kinder zu brauchbaren und lebenstauglichen Menschen zu erziehen. Das kann man heute sehen wie man will, aber wenigstens haben wir gelernt, anderer Leute Meinung zu respektieren und zu akzeptieren, Regeln einzuhalten hat und dass fremdes Eigentum absolut tabu ist. Ansonsten gab's ein paar hinter die Löffel. Verhaltensgestört wurde ich persönlich durch diesen zugegebenermaßen unliebsamen Vorfall nicht. Ich liebte meine Eltern, vertraute und glaubte ihnen, wenn sie sagten, dass sie nur das Beste für mich wollen. Ich habe mich später nie wieder an fremden Beeren vergriffen. Brauchte ich auch nicht, denn im Wald wuchsen leckere Blau-, Him-und Brombeeren, gleichermaßen auch Walderdbeeren.
Dank Mutter Natur wurde die Familie Giglinger zum Selbstversorger
Not macht erfinderisch und zwingt zum Handeln, um nicht zu hungern, zu dursten und zu frieren. So bedienten wir uns gerne und oft , wie viele andere Menschen in der Nachkriegszeit auch, von dem, was die Natur für uns parat hielt. Und das alles kostenlos und in reicher Fülle. Meine Mutter wusste alle Plätze rund um Aign im Landkreis Rosenheim, wo Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren und essbare Pilze wuchsen. Papa's Begeisterung für die Früchte des Waldes hielt sich zwar in Grenzen, was das pflücken und sammeln anbetrifft. Aber gegessen hat er insbesondere die Pilze gerne. Eine Schwammerlsuppe mit Semmelknödel und Gurkensalat war für ihn ein Festmahl erster Güte.
Da ja die Beeren nur eine begrenzte Zeit verfügbar sind, musste ich in dieser Zeit sehr oft mit in den Wald, denn auch hier galt das Sprichwort: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!" Die besten und bekannten Plätze waren nämlich bald abgezupft und wer zu spät kam, ging leer aus. Dementsprechend früh staubte mich meine Mutter an den schulfreien Tagen aus dem Bett, damit wir unsere "Millibitscherl" (Milchkanne) und andere Gefäße möglichst schnell voll mit "Taubern" (Taubeeren bzw. Blaubeeren) gefüllt hatten. Taubern sagt man dazu aber nur im oberbayerischen Dialekt. Seit ich in Niederbayern wohne, musste ich mich von meinem zweiten Ehemann Xaver eines Besseren belehren lassen. Hier heißen sie nämlich "Heubberl" (Heidelbeeren). Aber - egal wie man sie nennt. Mir schmeckten sie immer vorzüglich, vielleicht etwas zu gut. Mama hatte nämlich in der selben Zeit immer mehr gepflückt. Ihr Haferl war im Nu voll, da war bei mir erst der Boden bedeckt. Das kam davon , dass ich mich am Märchen von Aschenputtel orientierte, in dem es heißt "Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen" L e i d e r habe ich das falsch verstanden, denn ich machte es gerade umgekehrt.
Nicht so sehr konnte ich mich für das Pflücken von Himbeeren begeistern. Denn hier hatte man es mit Stauden zu tun. Das allein wäre noch nicht so schlimm gewesen. Es waren die Stacheln, gegen die man anzukämpfen hatte. Dazu kamen die Bremsen, Mücken uns sonstige Insekten, die einem das Leben als Himbeerpflückerin schwer machten. Gerade wenn man schwitzte, war man für dieses Kleingeflügel attraktiv. Wenn man einmal zu kratzen anfing, konnte man nicht mehr aufhören und die Mission "Beerenpflücken" beenden, obwohl noch jede Menge schöne Himbeeren an den Stauden hingen. Dann war halt die Ausbeute nicht so groß und man war froh, wieder nach Hause gehen zu können. Wesentlich einfacher waren die Erdbeeren zu ernten, denn die wuchsen entweder wild am Waldboden oder man hatte sie im eigenen Garten. Genauso die Johannisbeeren oder Stachelbeeren, sofern man ein Stückchen Garten sein Eigen nennen durfte und dort eigene Stauden einpflanzen konnte. Glück hatte ich insofern, dass am örtlichen Wasserbassin oberhalb des Heimatortes Aign ein Kirschbaum stand. Dort kletterte ich des Öfteren hinauf, wenn die begehrten dunkelroten Früchte reif waren. Von dort aus konnte man wunderbar ins Inntal schauen und dabei nicht nur die Füße, sondern auch die Seele baumeln lassen. Was ich damals überhaupt nicht mochte, war der Holunder. Das kam wahrscheinlich daher, weil meine Mutter immer, wenn sie nur einen Hauch von Fieber bei mir vermutete, mit ihrem selbst gemachten "Hollersirup" anrückte. Bis heute mag ich den Geschmack nicht. Bis ich kürzlich von meiner Tochter Tanja erfuhr, dass "Hugo" ein Holunderprodukt ist. Aber "Einbildung macht d'Leid narrisch" sagte meine Mutter immer und tatsächlich sind die Geschmäcker grundverschieden . Ich spreche ihm die Eigenschaft nicht ab, sehr gesund zu sein. Aber mir sagte er weniger zu, als andere Beeren. Auch kommt bei allem darauf an, was man draus macht.
Mama kannte alle Schwammerlplätze weit und breit , Papa zertrat die Pilze
Weil mein Vater die Schwammerlsuppe so gern mochte, ging meine Mutter möglichst oft "in die Schwammerl". Auch hier war, wie bei den Beeren, früh aufstehen angesagt. Andere nutzten nämlich die Pilzsaison genauso rege und so waren die bekannten Plätze bald überlaufen. "Man muss sie fangen, wenn sie aus dem Boden schießen" sagte mein Vater. Er selbst fühlte sich dabei nicht angesprochen, weil er kein Auge für diese Waldgewächse hatte. Gingen sie wirklich mal gemeinsam, hatte meine Mutter den Korb schon voll, während er vielleicht einen Schwammerl abbrockte (pflückte). So war es verständlicherweise meiner Mama lieber, wenn er daheim blieb. "Karl, du tretst ja mehr zamma, wiast findst!" (Karl, du trittst mehr Pilze nieder, als du findest!". Mein Vater war schnell einsichtig und überredet. Sagen wir mal so: Es kostete ihn keine Überwindung, daheim zu bleiben. Leider habe ich das Talent meines Vaters geerbt, kein geschultes Auge für Pilze zu haben. Meine Mutter hingegen fand auch in schlechten Schwammerlzeiten immer so viele Pilze, dass es eine Suppe gab. Selbst wenn sie sehr rar waren, ging sie so lange, bis sie für unsere Kleinfamilie genügend zusammen hatte. Doch damit war die Aktion noch lange nicht zu Ende. Jetzt mussten die Fundstücke sauber geputzt werden. Auch das bedurfte einer gewissen Fingerfertigkeit, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig wegzuschneiden. Auch musste man die Pilze genau kennen, denn es gibt davon viele giftige. Bei uns im naheliegenden Wald wuchsen vorrangig "Reherl" (Pfifferlinge), Maroni, Birkenschwammerl, Rotkappen und Champignons. Apropos Champignon, zu denen wir "Schamperl" sagten, ähneln diese den hochgiftigen Knollenblätterpilzen. Damit hätte ich beinahe meine ganze Familie ausgerottet. Ich war mit meinem vormaligen Ehemann und Vater meiner Kinder in den Bergen. Auf dem Rückweg zum Auto entdeckte ich plötzlich im Wald ein Schwammerlparadies. So viele "Champignons" hatte ich noch nie auf einen Haufen gesehen. Ich hatte zufällig eine Stofftasche im Rucksack. Die machte ich dreiviertel voll von diesen vermeintlichen Köstlichkeiten. Stolz zeigte ich sie zuhause unserer Mieterin Liesl, die eine Schwammerlexpertin war. Eine gute Entscheidung, denn sie rettete uns das Leben. "Die kannst du allesamt gleich wegwerfen. Das sind lauter Knollenblätterpilze." Ab diesem Zeitpunkt ließ ich die Finger von Pilzen aller Art. Liesl brachte mir manchmal welche, wenn sie genügend über hatte. Auf sie konnte ich mich zu hundert Prozent verlassen. Ich bin ihr auf ewig dankbar, dass sie eine schreckliche Katastrophe verhindert hat, die ich beinahe durch eine vergiftete Schwammerlsuppe verursacht hätte. Das zeigte mir wieder einmal, dass nicht alles genießbar und gesund ist, was die Natur zu bieten hat und schön ausschaut. Beim Spazierengehen am Waldrand achtete ich sehr darauf, dass meine Kinder keine Beeren abrupften und aßen, denn auch hier gibt es einige giftige, wie zum Beispiel Vogelbeeren oder Tollkirschen.
Sogar köstlichen Honig konnte Mama herstellen, und das ohne Bienen
Manchmal verdonnerte mich Mama, mit in den Wald zu gehen. Nicht etwa um zum x-ten Mal Beeren aller Art zu pflücken, Tannenzapfen zu sammeln oder Schwammerl zu suchen, sondern von den Kiefern oder auch Tannen, das weiß ich nicht mehr so genau, die Spitzen abzuzwicken. Daraus machte sie Honig. Ich dachte bisher immer, dass dieser nur mit Hilfe der Bienen hergestellt werden kann. Wie sie es gemacht hat, entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis. Ich kann mich lediglich daran erinnern, dass ein Sieb und Kandiszucker eine wichtige Rolle gespielt haben und dass die Küche danach ausgesehen hat, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das war der Preis dafür, dass bei uns immer Kompott, Marmelade, Honig und hart gekochte Eier vorhanden war. Letzteres waren die Soleier, die heutzutage kaum mehr jemand kennt. Die Eier wurden haltbar gemacht, in dem man sie entsprechend lange in kochendem Wasser legte und anschließend mitsamt ihrer Schale in einer Lake aus Kochsalz lagerte. Leider gab es damals noch keinen Kühlschrank, der diese Methode erübrigte. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich nicht heikel bin. Meine Kinderzeit prägte mich. Da wurde gegessen was auf den Tisch kam. So liebte ich es, wenn beim Wimmer, bei denen wir wohnten, ein Schwein geschlachtet wurde. Da wurde im Hof ein Waschkessel aufgestellt. In das kochende Wasser wurde der Kopf, das Kronfleisch, Schweinepfoten, Nieren, Herz, Lunge und das Schweineschwänzchen reingegeben. Mit einem breiten Grinsen fragte mich der Schuster-Hans immer: "Eva, mogst du des Sauschwanzel?" . Ich nickte jedesmal heftig, denn ich fand es besonders lecker. Früher wurde beinahe das gesamte geschlachtete Schwein verwertet. Sogar die Saublodern (Blase) fand als Ball oder als Schwimmhilfe eine begeisternde Verwendung bei uns Kindern. Aus dem Schweinefleisch wurde Wurst und Pressack gemacht, es wurde eingesurt (gepökelt) oder geräuchert, um das Fleisch möglichst lange haltbar zu machen.. Geselchtes hing immer in der Speisekammer der Wimmers. Wir bekamen immer etwas davon ab. Genauso wie es allgemein der Brauch war, dass dem Lehrer, dem Pfarrer, oder auch dem Bürgermeister etwas von den guten Fleischstücken zugesteckt wurden. Eine von meinen besonders guten Erinnerungen und Lebenserfahrungen widme ich der "Schuastamuatta" (Großmutter der Familie Wimmer, dessen Hausname Schuster war) Sie war eine Seele von Mensch. Ihr Sohn Hans und seine Frau Gretel hatten vier Kinder. Die Marga, den Hansi, den Marte und den Seppi. Ich war ein Einzelkind. "Auf oane mehr oda weniga kimmts ned o. Mogst mit uns essn?" sagte die besagte Oma immer, die mich immer mitversorgte. Ich durfte mich zu den Schuastakindern an den Tisch setzen. Sie vermittelte mir das Gefühl, dass ich dazu gehöre. Hunger musste ich dank meiner Eltern und der Schusteroma nie erleiden. Das war zu dieser Zeit, so kurz nach dem Krieg, keine Selbstverständlichkeit. Leider zogen wir, als ich sieben Jahre alt war, um. Zwar nur etliche Häuser weiter zum Liegl, aber nicht mehr in ein Bauernhaus, wo Obst, Eingemachtes, Fleisch und Wurst immer vorhanden war. Sie waren "Heislleid" (Häuselleute). Sie hatten ein kleines Häuschen, in dem sie zwei Zimmer vermieteten. Und sie hatten Ziegen, nach denen das ganze Haus roch (stank).
Zurück zu den Beeren: Ich habe mir in meiner Kinderzeit geschworen: Wenn ich selbst eine Familie habe, werde ich nichts einwecken, keine Marmelade machen oder Säfte herstellen. Der Grund war das unvermeidliche Chaos in unserer Küche, das mir zum Spielen kaum noch Raum ließ. Ich muss meine Mutter noch rückwirkend bewundern, dass sie alles immer wieder schnell in Ordnung brachte, damit wir uns wohlfühlen konnten. Das war auf engsten Raum eine Meisterleistung.